Die Vorgeschichte:
Meine erste Aufgabe, an die ich mich erinnern kann, bekam ich als zwei oder drei Jährige von meiner Großmutter, die gläubige Muslima war:
‚Du musst jeden Menschen so behandeln, wie du selbst behandelt werden willst!’ sagte sie, erst in Arabisch - weil sie aus dem Koran vorlas - dann in Türkisch - damit ich es verstand.
Mit 7 kam ich nach Deutschland und lernte aus der Bibel im christlichen Religionsunterricht die 'Goldene Regel':
„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinem andern zu“
Etwas später zitierte mein Vater immer wieder den ‚Kategorischen Imperativ’ des Philosophen Kant:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Während meines Studiums entdeckte ich Erich Fromm - Theodor Wiesengrund Adorno - Walter Benjamin und Hannah Arendt - die von ‚Dialektik’ schrieben, die nach dem Holocaust zu einer Schlüsseleigenschaft des komplexen Denkens wurde und des Perspektivwechsels - als Erkenntnisweg für Selbstbesinnung und Selbstkritik!
Und so wuchs ich, ohne es zu ahnen, mit drei Weltreligionen auf und lernte: Liebe von Moslems, Handeln von Christen und Denken von Juden.
Dabei lernte ich vor allem eins: wie ähnlich wir alle uns sind! Sodass ich niemals verstehen werde: wie ein Mensch einem anderen Menschen seine und ihre Existenzberechtigung absprechen kann.
Die ‚Goldene Regel 'Füge Niemandem etwas zu - was du nicht willst - dass man es dir antu' ist in allen Weltreligionen, allen Philosophien und Lehren die moralische Grundformel für das Zusammenleben von Menschen mit Menschen und von Mensch und Natur!
Jede und Jeder, die oder der sich über dieses Humanum hinwegsetzt, bewegt sich außerhalb der Menschlichkeit.
Eine rassistische Gesinnung ist keine Meinung, sondern eine kriminelle Herrschaftsideologie.
Die nur ein Ziel kennt: Uniformität und die totale Kontrolle über jegliche Individualität.
Rassismus will völkische Selektion und Isolation. Seine Mittel sind Hetze und Mord.
Bis heute arbeite ich den Auftrag meiner Großmutter ab, versuche als Frau - Mutter und Künstlerin - alles dafür zu tun, dass sich Menschen gegenseitig so behandeln, wie sie selbst behandelt werden wollen. Dass wir unsere Unterschiede als Ergänzungen erkennen und nicht als Bedrohungen abwehren, weil uns alle mehr verbindet als uns trennt!
Ich bin überzeugt - dass der Respekt - sprich alles Verbindende - der Garant für den Frieden ist!
Und dass alles Trennende das Kriegsprinzip - Hass und Hetze fördert!
Weil Respekt auf Vertrauen aufbaut und Hass auf Zerstörung.
Der Maulbeerbaum war und ist für mich das sinnlichste Symbol einer friedlichen und diversen Welt:
Seine Wurzeln kennen keine Grenzen und seine Früchte kein Geschlecht.
Sie sind blass und bunt wie der Regenbogen und im Herbst verabschiedet er sich so optimistisch und lichtvoll wie ein goldenes Feuerwerk - damit wir uns auf die Zukunft freuen!
Er ist ein poetisches Symbol für das Ewig Wiederkehrende und das Ewig Weiterlebende. Er ist ein lebendiges Bild der Trauer und eine sich ständig erneuernde Hoffnung.
Der Maulbeerbaum ist ein Lebensgebet wie es Rilke in seinem unvergesslichen Gedicht über das Leben geschrieben hat:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Zu der Aktion ‚Maulbeerbäume gegen Rassismus’ pflanzen:
Vor 30 Jahren wurden in Mölln und Solingen Menschen verbrannt wie Papier, weil sie so aussahen wie ich – wie meine Mutter und Großmutter und wie meine Tochter.
Und seit 30 Jahren heißt es immer wieder: „Ab heute ist nichts mehr wie davor.“
Jedes Mal. Nach Solingen. Nach Mölln. Nach Rostock-Lichtenhagen. Nach den NSU-Morden. Nach München, Dessau, nach Kassel und auch nach dem Massenmord in Hanau! Ich will diesen Satz nicht mehr
hören – von keinem Politiker, keinem Journalisten und keinem Wissenschaftler.
Seht es endlich ein: Wir haben es mit einem global vernetzten, rassistischen Syndikat zu tun, einem giftigen Amalgam aus Menschenverächtern, Mördern und politischen Kriminellen. Sie produzieren Verachtung, Unsicherheit und Gewalt.
Das muss aufhören: 30 Jahre Vergessenskultur und immer wieder Anschläge. Es ist schon lange nichts mehr wie es davor war!
Mit Maulbeerbäumen wollen wir Orte der Erinnerung schaffen, um der Opfer des islamophoben Rassismus zu gedenken! Und um gemeinsame Rituale zu entwickeln für einen permanenten Diskurs und eine dauerhafte Aufklärung in der Öffentlichkeit, in Schulen und Vereinen.
Im Idealfall schaffen wir so ein Bewusstsein über den – über alle Parteien schwebenden tendenziösen kulturellen Rassismus – sowie über den 'strukturellen Rassismus' vor unseren Haustüren - auf unseren Strassen und in unseren Behörden!
Wir wollen an jedem Ort, wo Rassisten in Deutschland gemordet haben, mit einem Maulbeerbaum einen Herzwurzler in unsere gemeinsame Erde pflanzen und so an die Menschen erinnern, die nicht leben durften.
Wir wollen einen Ort der Kraft schaffen, der Schatten und Ruhe spendet für alle. Wir wollen erzählen und verstehen ermöglichen. Gemeinsam.
Unsere Antwort auf Hass ist radikale Menschlichkeit.
Unser Respekt ist stärker als jede Hetze.
Wir wünschen uns, dass sich Politikerinnen und Politiker - Richterinnen und Richter – Lehrerinnen und Lehrer – Künstlerinnen und Künstler aller Disziplinen sowie Sportlerinnen und Sportler aller Gattungen gemeinsam unterhaken gegen Rassismus und für eine respektvolle, offene und diverse Demokratie!
Im Schatten des Maulbeerbaums
Oder
Wenn die Menschen Herzwurzler wären
Ich träumte gestern,
dass die Blätter meines Maulbeerbaumes
sich wie Schauspieler auf der Bühne unterhielten:
Ja, wenn die Menschen
Herzwurzler wären!
und schüttelten sich kurz
mit lautem Gelächter,
dann wären sie klug
wie die Maulbeerbäume,
sagten sie ernst,
denn Maulbeerbäume
kennen keine Trennung
von Mann und Frau
oder ihren Hautfarben.
Die Geschlechter wachsen -
ob weiß oder schwarz
oder lilafarben -
aus einem Ast
mit einer Blüte
zu einer Frucht!
Herz an Herz
Kopf an Kopf
Mit nur einem Ziel:
Etwas Wohltuendes weiterzugeben.
Wir Maulbeeren sind die klügsten,
sagten sie,
wir schicken die Knospen
erst dann raus,
wenn die Kälte
endgültig vorbei ist!
Dann kicherten sie:
wir sind nämlich die Kreativen
in der Wurzelwelt!
Wir lieben Hindernisse
und Umwege
und kennen keine Berührungsangst:
wir steigen herab,
so tief wie wir Luft bekommen
und strecken uns soweit
wie es Raum gibt
entlang der Grasnarben:
bis an Häuserwände heran,
um Blumenbeete herum
und über Abhänge hinaus!
Wenn ihr Menschen Herzwurzler wärt
wie wir
würdet ihr euch anpassen
an Wege und Gassen,
an Witterung und Kultur,
würdet Halt finden im Sand
und auf steilen Felsen
an Ufern und in Meeresspalten,
ohne die Natur zu verstümmeln
oder auszubeuten.
Alle würden satt werden
und ein Zuhause finden,
neben anderen
Wurzelnachbarn,
die auch erst lernen,
sesshaft zu werden
in einer neuen Wurzelheimat.
Ihr würdet euch
den Reichtum teilen
wie auch Nahrung,
Arbeit, Kunst und Hobbys
Friedlich, frei und freundlich -
mit Wurzeln für alle
Lebensformen.
Niemand würde den anderen überwuchern,
verdrängen oder vernichten.
Der Planet ist ein Paradies
für alle Wurzlerarten,
denn er braucht die Vielfalt
und deren Nutzen,
nicht nur für Bienen
und Bären.
Selbst die Taliban
der Wurzelsorten
wie Distel, Quecke
oder Löwenzahn
sind Oasen
für Würmer und Maden.
Und ohne die
himmelhohen Tiefenwurzler
wären Äcker und Weiden
schon längst
Brachen und
Wüstenlandschaften!
Wären Menschen Herzwurlzer
wären sie Organe
einer Wurzelwelt,
ihre Hände, Augen und Ohren,
ihr Geist und ihre Seele.
Sie hätten Wurzelbühnen
und Wurzelkonzerte
mit freiem Eintritt.
Es gäbe kostenlose Schulen
und Universitäten,
weil Geld keine Rolle spielt
in Wurzelkulturen.
Es gäbe genug mietfreie
Wurzelwohnungen
und alle wären
krankenversichert.
Im Erdreich kümmern sich alle um alles
denn Wurzeln sind weise Wesen -
stille Hohepriester
der göttlichen Heilkunde
zwischen Mittelerde
und Grasgewebe
Waffen wären überflüssig
und die Todesstrafe unbekannt,
denn die Wurzelwelt
will verstehen
und redet miteinander
durch Pilze und Sporen,
mehr braucht es nicht
sagen sie,
gegen Rassisten
und Aggressionen.
Das alles
wär’ kein Traum!
flüsterten die Blätter,
wenn die Menschen
Herzwurzler wären,
egal in welcher
Maulbeerfarbe,
ob weiß, rosarot
oder violett,
egal ob säuerlich,
eher fad
oder zuckersüß!
Sie hätten auf ewig alles,
das ihr Menschsein
und die Wurzelwelt sichert:
Frieden, Freude und Freiheit!
Dann kitzelte mich ein Blatt
Und ich wachte auf.
Durch den Wind
hatte sich der Schatten
der Zweige verschoben
und die Sonne leuchtete
auf mein Gesicht
wie eine Taschenlampe
von ganz hoch oben.
Renan Demirkan